Annalena Baerbock lässt in ihrer ersten grandiosen Rede als Kanzlerkandidatin “Feminismus” und “Rassismus” unerwähnt. Wie wichtig ist das?
Alles ist sorgsam choreographiert: Robert Habeck tritt souverän auf und wichtiger: souverän zur Seite: „Die Bühne gehört dir!“ Eine gut gelaunte, energetische Annalena Baerbock geht daraufhin ans Redner*innenpult und trinkt erst einmal einen Schluck Wasser. Neben ihr sind Leinwände aufgestellt, die leuchtend zwei Huckepack spielende Kinder zeigen und daneben eine ältere Frau, die sympathisch lächelnd eine offensichtlich etwas größere Person umarmt. Mehr ist nicht zu sehen. Auf der anderen Seite illustrieren eine Pflegerin mit Maske die Berufswelt gemeinsam mit zwei Frauen auf einer Baustelle, vermutlich Ingenieurinnen. Die Botschaft ist klar: Annalena steht inmitten der Gesellschaft. Zumindest inmitten des Teils, der privat Liebe und Freude und im Job Zuversicht, Ernsthaftigkeit und Empathie ausstrahlt. Augenfällig ist, was fehlt. Es gibt keine Männer in Anzügen. Männer überhaupt stehen im Hintergrund.
Im neuen Wahlprogramm der Grünen steht: „Es wird Zeit für eine feministische Regierung, in der Frauen und Männer gleichermaßen für Geschlechtergerechtigkeit eintreten“. Die dort vorgeschlagene Definition ist eine Einladung in die Breite. Sie geht so: „Feminismus nimmt alle in den Blick und schafft Selbstbestimmung, Teilhabe und Gerechtigkeit. Ziel ist eine Gesellschaft, in der alle unabhängig vom Geschlecht selbstbestimmt leben und auch Frauen überall gleichberechtigt mitgestalten können – von der Arbeitswelt bis in die Parlamente. Das ist eine Aufgabe für alle Geschlechter.“ Doch in ihrer Rede vermeidet Annalena es, auch nur einmal „feministisch“ einzustreuen. Es muss genügen, dass sie als relativ junge Frau antritt, offen ihr Faible für Frauen kommuniziert – siehe Bühnenbild – und sich souverän als mögliche Kanzlerin und Mutter platziert. Dass „Kitas und Schulen zu unseren schönsten Orten werden“ ist einer ihrer Sätze, der eine fette Grenze ziehen zum bisherigen Regieren à la carte, zu Angela Merkel und mehr noch ihren aktuellen Konkurrenten. Ebenso wie ihre Parteinahme für Härte, Entschiedenheit und Mitgefühl. Dass sie dort steht, wo sie steht, ist eine große Leistung. Und sie gibt Hoffnung. Schließlich hatten die meisten Medien bis vor Kurzem noch Habeck selbstverständlich als nächsten Kanzler(kandidaten) glänzen lassen, obwohl die Co-Chefin fachlich als kompetenter gesehen wurde. Just diese Selbstverständlichkeit, dass bei wichtigen Angelegenheiten am Ende Männer den Wettbewerb gewinnen, hat Annalena nun aus dem Weg geräumt. Ihr Anspruch und ihre Erfolgschancen auf das Kanzler*innenamt werden nirgends mehr belächelt. Annalena Baerbock wird ernstgenommen. Was für ein Erfolg!
Das Problem mit dem Weichzeichner „Vielfalt“
Ähnlich wie mit dem Beschweigen von Feminismus hält die Kanzlerkandidatin es auch mit dem zweiten großen Reizthema dieser Tage: Rassismus. Im Wahlprogramm steht fett gedruckt „Konsequent gegen Rassismus“. Darunter wird erläutert: „Rassismus ist Realität im Alltag, auf der Straße, im Netz, in Institutionen. Er betrifft nicht alle von uns gleichermaßen, aber er geht uns alle gleichermaßen an.“ In der Rede jedoch verschwimmen strukturelle Gewalt und Benachteiligung zu einem Plädoyer für ein vielfältiges Land. Nur ein kleiner Verweis auf die BlackLivesMatter-Bewegung hätte erlaubt, Ismen zu vermeiden und die dahinterstehende Lebenszugewandtheit in den Mittelpunkt zu stellen und die Logik des Unsichtbarmachens zu überwinden.
Nun ist die Antrittsrede einer Kanzlerkandidatin kein Wahlprogramm. Es geht darum, mit Auftritt und Ausstrahlung Vertrauen zu gewinnen für eine Politik, bei der sich alle Demokrat*innen besser fühlen als bisher. Annalena hat dafür das Thema Macht gewählt und ein Zeichen für einen anderen Umgang mit ihr gesetzt. Einen Umgang, der sich von der durch Söder & Laschet wieder und wieder aufgeführten patriarchalen Norm abhebt. Auch das ist ihr gelungen. „Macht bedeutet nicht, dass man sich gegenseitig bekämpft, sondern Macht bedeutet, dass man ins Machen kommt“, sagte sie gleich zu Beginn. Es geht um ein neues Miteinander. Abstrakter formuliert um einen Gesellschaftsvertrag, der Demokratie mithilfe von Klimaschutz, Verteilungsgerechtigkeit und in Verbundenheit der Generationen wieder auf die Füße stellt.
Aber gehört genau dazu nicht auch, dass progressive zivilgesellschaftliche Bewegungen wie Rassismuskritik und Feminismus genannt werden? Und sei es nur, um den dafür arbeitenden Akteur*innen in aller Öffentlichkeit Anerkennung zu zollen? Ich finde ja. Auch diese Seite von Symbolpolitik ist wichtig und bricht krachend mit dem Status quo. Wenn die Ausnahme Standard werden soll, wie die Kanzlerkandidatin zurecht fordert, dann gehört das dazu. Auf die Frage jedoch, was bei der Entscheidung für sie und gegen Robert Habeck den Ausschlag gegeben habe, antwortet sie nur einsilbig, sogar ein wenig verdruckst: „Emanzipation“ habe eine wichtige Rolle gespielt. „Emanzipation“, ein Wort aus den 1980ern, angestaubt und leblos.
Realistisch bleiben
Doch machen wir uns nichts vor. Deutschland ist nicht halb so emanzipiert, wie es denkt, dass es das wäre. Alle Daten oder Studien genauso wie die ewige Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nur an Frauen und natürlich auch an Baerbock, zeigen das. Und gerade wieder frisch vor allen Kameras der Republik. Die Abwehr gegen Feminismus und Anti-Rassismus sind in der Mehrheitsgesellschaft massiv und solide, also genau dort, wo die Grünen nun weiter punkten wollen. Diese Reflexe nicht zu bedienen, sondern den Komplex Feminismus und Antirassismus in all seinen Verflechtungen über Haltung, gegenderte Sprache und Bühnenbild zu transportieren, ist richtig und wichtig – und fast allen anderen Parteien bereits Lichtjahre voraus. Trotzdem.
Wenn Politik über sich hinauswachsen soll, müssen Feminismus und Rassismuskritik als eine der wichtigsten sozialen Bewegungen aus der Schmuddelkiste des letzten Jahrhunderts geholt und daher auch auf höchster Ebene beim Namen genannt werden. Sie gehören in das Vokabular und Framing einer, die antritt, ein „Wir der Vielen“ umzusetzen. Das ist kein Selbstläufer und eine Herausforderung, die es in sich hat – für Annalena wie die Grüne Familie insgesamt. Niemand hat hier schon ein Rezept. Denn viele warten nur darauf, eine Frau als nicht tragbar herabzuwürdigen: als zu jung, als zu sehr Frau, zu sehr Mutter, als irgendetwas „zu sehr“... Wie man das bei Frauen eben so macht. Und wenn diese dann auch noch eine positive Referenz auf Feminismus machen, hui! Ich höre sie schon brüllen. Dieses feminismusfeindliche Getose raubt so viel Energie. Energie, die Politikerinnen, die auf Veränderungen drängen, so dringend an anderer Stelle brauchen. Gleichzeitig aber schafft die feministische Perspektive, zumal wenn sie rassismuskritisch ist, Verbindungen, die Wege in neues Wir zuallererst ebnen. Mehr Menschen denn je arbeiten genau an diesem Projekt.
Vergessen wir auch nicht: Eine verdienstvolle Kanzlerin, die Respekt verdient und auch erhält, aber weder Patriarchat, strukturelle Gewalt noch Feminismus denken und sagen konnte, hatten wir schon. Ergebnis: Ihre Nachfolger verschleudern gerade ihr politisches Erbe.
P.S. „So, und jetzt eine feministische Übung für Fortgeschrittene: Nicht dem Mann gratulieren, dass er einer Frau „den Vortritt“ ließ, sondern der Frau, weil sie es wuppte!“ (Hilal Sezgin)